Von Seattle aus fahren wir mit dem Zug nach Vancouver an der Westküste Kanadas. Abgesehen davon, dass wir leider absurd früh dafür aufstehen müssen, ist diese Variante ein absoluter Hauptgewinn.
Der Bahnhof in Seattle sieht alt, erhaben und hochherrschaftlich aus. Ich hätte nicht gedacht, dass man das über einen Bahnhof sagen könnte. Entsprechend erstaunt bin ich. Wir sitzen müde in der stuckverzierten Wartehalle. Man wartet nicht auf dem Gleis. Der Zugang zu diesem wird nur geöffnet, wenn in den Zug eingestiegen oder aus dem Zug ausgestiegen werden soll.
Der Zug selbst ist gemütlich. Die Sitze sind so kuschlig, dass ich keine 20 Minuten brauche, um einzuschlafen. Zum Glück schlafe ich nicht die gesamte Fahrt über. Die Schienen folgen der Küstenlinie. Wir haben vorher schon gehört, dass es in dieser Gegend Weißkopfadler geben soll. Also haben wir darauf gehofft, vielleicht welche vom Zug aus zu sehen. Aber dass gleich mehrere davon neben dem Zug herfliegen, damit haben wir nicht gerechnet. Insgesamt sehen wir auf dieser Zugfahrt etwa 15 Weißkopfadler! Was für ein Tag! Schon jetzt! Dabei ist es noch nicht mal Mittag!
Als wir in Vancouver ankommen und etwas unschlüssig vor der Karte mit dem Straßenbahnnetz stehen, spricht uns eine junge Mutter mit Kind an, ob sie uns helfen könne. Während sie uns zu der richtigen Haltestelle begleitet unterhält sie sich zweisprachig (Englisch und Französisch) mit ihrem etwa 2-jährigen Sohn. Ich bin baff. Bisher hatte ich sowohl von englischer wie auch von französischer Seite immer glaubhaft versichert bekommen, dass es rein physikalisch unmöglich sei, die Sprache des jeweils anderen zu sprechen und insbesondere verständlich auszusprechen. Und hier geht das plötzlich in einem Satz! Das habe ich so noch nicht gehört.
Für die Zeit in Vancouver haben wir uns wieder über airbnb in eine private Unterkunft eingemietet. Zur Schlüsselübergabe treffen wir unsere neue Zimmerwirtin an einer Straßenbahnhaltestelle. Wir bekommen neben dem Schlüssel noch eine genaue Wegbeschreibung und einen Ordner mit Informationen und oben drauf ein breites Willkommenslächeln. Ich liebe private Unterkünfte! Ich liebe es, Menschen kennenzulernen!
Als wir schließlich in unserem neuen Zuhause für die nächsten 3 Nächte ankommen, sind wir ein weiteres Mal an diesem Tag baff. Das Zimmer liegt im 10 Stock und besteht zur Hälfte aus Fenstern. Wir haben eine Aussicht über die Ausläufer der Stadt bis hin zum Horizont.
Obwohl wir hundemüde sind, beschließen wir, uns noch ein bisschen die Stadt anzugucken. Leider ein großer Fehler. Diejenigen, die den Blog schon etwas länger verfolgen, wissen inzwischen, dass mein Freund und ich die unselige Neigung haben, intuitiv die schlimmsten und leider auch gefährlichsten Stadtteile einer Stadt zielsicher zu finden, da zu wohnen oder verschreckt hindurchzuflanieren. So beschließen wir heute, uns erstmal China Town anzugucken und da zu essen. Denn China Towns sind für uns als Europäer eigentlich immer interessant und gutes, d.h. frisch zubereitetes Essen haben wir in den Stadtteilen bisher auch immer gefunden. Uns fällt auf, dass das China Town in Vancouver ganz schön verranzt aussieht. Wir finden schließlich ein Lokal, in dem wir essen mögen und beobachten durch relativ dreckige Scheiben, wie draußen vor dem Laden ein Mann oben ohne und dafür im rosa Tütü über der speckigen Lederhose hingebungsvoll über eine Kreuzung tanzt. Okay, Drogen nehmen sie hier also auch. Ich habe mich schon mehrfach gefragt, ob es bei uns solche Drogen nicht gibt oder ob die Tütü-Tänzer immer so schnell von der Polizei eingesammelt werden, dass man davon nicht so viele sieht. Hier scheint man sich jedenfalls nicht groß darum zu kümmern.
Nach dem Essen schlendern wir aufs Geratewohl durch die Stadt. Schwerer Fehler. So biegen wir ahnungslos in die Hastings Street ein. Ausnahmslos jeder Kanadier, dem wir hinterher diese Geschichte erzählt haben, wusste den Namen der Straße schon bevor wir ihn ausgesprochen hatten! Nach 10 m komme ich mir vor wie im Zombie-Land. Und es wird immer schlimmer. Wir sind umringt von Menschen, die eindeutig sehr merkwürdig sind, um es mal so freundlich und positiv wie möglich auszudrücken. Ich will nicht wissen, was die genommen haben oder auf was die mal hängengeblieben sind, aber ich habe seltenerweise mal tatsächlich richtige Angst. Und ich habe die Schnauze voll. Ich hab von dieser Art Problemen in den letzten Wochen in den USA einfach zuviel gesehen. Es ist zwar erst 17 Uhr, aber ich beschließe, dass ich jetzt in dieses großartige Zimmer zurückfahren und eine gepflegte lange Nacht schlafen werde und dass mich Nordamerika mit seinen Drogenproblemen und seiner nicht vorhandenen Sozialpolitik mal kann. Bis wir wieder in die Wildnis fahren, will ich aus diesem Zimmer nicht mehr raus!
Am nächsten Tag bin ich krank. Soviel dazu. So habe ich einen guten Grund, mich richtig auszuschlafen und ab und zu den Ausblick zu genießen. Als wir uns am Abend mit unseren Gastgebern unterhalten, wird uns einiges klar. Die Hastings Street ist tatsächlich eine der unangenehmsten Straßen von Vancouver. Auf der Karte sehe ich, dass nur eine Straße weiter der „hübsch polierte Touristenteil“ der Stadt gewesen wäre. Aber was ist mit dieser Straße los? Uns wird erklärt, dass bis vor kurzem in dieser Straße ein Asyl für psychisch kranke Menschen betrieben wurde. Allerdings sei es wegen Kürzungen im Sozialbereich vor einiger Zeit geschlossen worden. Die Bewohner mussten von ihren Verwandten abgeholt werden. Wer niemanden hatte, wurde einfach auf die Straße gesetzt. Und genau da sitzen diese Menschen immer noch. Vor den Toren ihrer alten Anstalt. Diesmal bin ich auf eine sehr ungute Art baff.
Mit den Infos, wo wir besser nicht rumlaufen sollten (eigntlich überall da, wo wir bis jetzt waren) sind die nächsten Tage in Vancouver wieder besser. Aber immer, wenn ich einen schönen Stadtteil sehe, muss ich an die Hastings Street denken. Vielleicht gibt es solche Geschichten bei uns auch. Aber mir erscheint unser soziales Netz doch irgendwie engmaschiger. Obwohl wir mit unseren Gastgebern zwei großartige Menschen getroffen haben und in Vancouver noch ein paar nette Ecken sehen, hinterlässt der Aufenthalt einen Nachgeschmack und ich bin froh, als wir die Stadt in Richtung Vancouver Island verlassen.